Sonntag, 30. November 2008

strukturelle gewalt

im Graefekiez, wo Multikulturalität nach wie vor groß geschrieben wird, gibt es ein von jungen Migrant/innen betriebenes Etablissement; namentlich von Franzosen. Dort erkundigte sich meine Begleitung, ob man rauchen dürfe, man durfte. Wir nahmen also an einem der Holztische in der Nähe des Pianos Platz und wurden von einer exotisch interessanten, aber offensichtlich integrationsunwilligen Servicekraft bedient, die kein Deutsch sprach, sondern nur Englisch mit französischen Akzent. Unterdessen betrat ein junges deutsches Paar die Räumlichkeiten und nahm mit zwei Kindern und gefühlten drei Kinderwagen am Tisch hinter uns Platz. Bald kam aber eine zweite Bedienung hinzu, die in deutscher Sprache einen Aschenbecher brachte, und uns aufforderte, doch bitte einen Tisch am anderen Ende des Etablissements zu wählen, denn unterdessen sei eine Familie mit Kind eingetroffen, habe sich entschieden, nun einmal hier Platz zu nehmen, und da der Zigarrettenrausch insbesondere für das kleinere der Kinder schädlich sei, bitte sie uns um Rücksichtnahme. Allzu keck fragte ich, ob nicht vielleicht die Familie sich umsetzen möge, denn wir saßen ja nun schon eine Weile an unserem Tisch. Das Ehepaar, welches wohl gleichsam das alte Kerneuropa der jungen Familie ausmachte, quittierte dies nur mit - wie mein Begleiter sagte - "schrägen" Blicken; die Kellnerin appellierte an unser Verständnis. Sie war im Folgenden sehr höflich, und ich war bemüht, möglichst wenig von meiner Wut an ihr auszulassen, sagte lediglich überlaut und so kalt ich nur konnte, und ich kann kalt, wenn ich will: "Selbstverständlich haben Kinder hier im Kiez immer Priorität".
So wurde die deutschsprachige Bedienung zur Handlangerin eines Aktes struktureller Gewalt, wie er unter dem Deckmantel des friedlichen Zusammenlebens in einem multikulturellen Kiez längst schrecklicher Alltag geworden ist. Nur folgender Exkurs hilft mir über meinen Schock hinweg: In der Kulturanthropologie ist es zu einem Modethema geworden, aufzuzeigen, wie Machtverhältnisse beständig unter Akteuren im Alltag ausgehandelt werden, und offizielle Ideologien sowie staatliche Gesetze lediglich neben traditionellen Strukturen bestehen, die eine weitgehende Hegemonie im öffentlichen Raum für sich beanspruchen. Heideradatz, dies einmal nicht auf die Muslimbrüderschaft in Ägypten oder die Lage der chinesischen Minderheit in Malaysia anzuwenden, sondern auf den Sonntagabend im heimischen Kiez:
Wo ein Gastronomiebetrieb sich entscheidet, gegen das Rauchverbot zu optieren, aber keine designierten Raucher- und Nichtraucherbereiche einrichtet, entstehen "fluid boundaries" (Haberdasher 2006:27), die im Prozess eines "mental mappings" (Sieberg 1998:113) von den diskursberechtigten Akteur/innen ausgehandelt (negotiated) werden, sobald durch das Aufeinandertreffen zweier Gruppen mit unterschiedlichen Interessen bzw. kulturellen Verhaltenscodes das Bedürfnis nach Designation von Alterität (Chatterjee 2002:95) entsteht.
Nicht diskursberechtigt waren in diesem Falle wir, die Raucher, da unser Status einer der Liminalität im Sinne von Victor Turner war und sich in der "condoned transgression of an abstract law" (Olivishkov 2005:18) manifestierte, welche jederzeit im Namen konträrer partieller Interessen als transgressive gemarkert werden kann.
Daß divergierende kulturelle Verhaltenscodes für die Mehrheitsgesellschaft allerhöchstens im Rahmen einer "depressiven Toleranz" (Aysun Bademsoy) hinnehmbar sind, darauf verwies nicht nur die Tatsache, dass das kleinere der Kinder, das von der ganzen Sache gar nichts mitbekommen hatte, und ebensowenig diskursberechtigter Akteur war wie wir, später stark husten mußte, ohne überhaupt in Berührung mit dem von uns in 10 m Entfernung ausgesonderten Zigarrettenrausch gekommen zu sein. Sondern auch die unübersehbare Tatsache, daß die nicht integrationswillige, ausländisch sprechende Servicekraft von der ganzen Geschichte ebenfalls überhaupt nichts mitbekam und lediglich verwundert unsere beiden Kaffee an den weit entfernten Tisch hinterhertragen mußte. Daß die gar nicht wahrgenommen hat, inwieweit sich die fluid boundaries durch das entstehende Bedürfnis nach Designation von Alterität plötzlich verfestigten, während sie gerade mit ihrem Tablett die Distanz von der Theke zu unserem Tisch zurücklegte, zeugt doch nur von ihrer eigenen Alterität (Migrantin ohne Deutschkenntnisse) und ist ja wohl ein dicker Hund. Von wegen savoir vivre, scheiß Kopftuchträg... äääh, rothaarige frankophone Jazzhörerinnen.

Nicht ganz geblickt habe ich derweil, wo ich Zizeks Lacanschen Begriff vom "obszönen, genießenden Vater" hier unterzubringen hätte, wo doch der reale Familienvater im Raum allem Augenschein nach die ganze Zeit über weder obszön war, noch etwas genoß. Soweit ich sein Gesicht sehen konnte, nicht einmal die Tatsache, ohne ein Wort sagen zu müssen einen hegemonialen Raum eingerichtet zu haben.

(mein persönlicher Soundtrack hierzu: Le Bourgeois von Jacques Brel, obschon in dem französischen Etablissement in Wirklichkeit sehr guter Hardbop lief)

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