Sonntag, 28. September 2008

Übersetzung und Rezeption, Teil 1

eine Sache, die wir deutschen ganz gut können, ist die Produktion des Erhabenen im Prozeß der Identitätsbildung. Unsere post-postmoderne Nationalkultur als ein blühender Industriezweig vermag sich desto feiner, desto größer herauszustellen, je kritischer von dem anderen, Nichtdazugehörenden in unserer Mitte sie sich abgrenzt. Erst im Relief abgesetzt gegen patriarchale Grobheit, Homphobie und Antisemitismus unter meist bildungsfernen Zuwanderern tritt anschaulich hervor, wie sehr wir selbst diese beklagenswerten Neigungen abgestreift, ja dass sie ursprünglichst unserer Seele fremd sind.
So sehr, dass wir den noch undifferenzierten Literaturen der anderen nicht vieles abgewinnen können, solang nicht aus ihnen heraus das Andere im Anderen uns in unserem Eigensten anspräche. Gar so verhält es sich mit dem Übersetzen, seit alters her eine konstitutive Teilleistung unserer Nationalkultur.
Nun firmiert die Republik Türkei als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse, die quasi ante portas steht. Sie sind Anfang 30 und wohlhabend, Sie haben eine betriebswirtschaftliche Qualifikation und unlängst ein größeres Verlagsunternehmen aufgekauft. Sie kümmern sich persönlich darum, dass ein Titel erscheint, dessen Ich-Erzähler/in eine Istanbuler Tunte ist. Zwar haben Sie den Text nicht gelesen, doch tragen Sie dem Übersetzer dringlichst auf, er müsse schräger und schriller werden, ähnlich wie Almodovar, vermutlich das Einzige, wo Ihnen jemals Tunten begegnet sind. Umschreiben.
Oder Sie arbeiten bei einer echten Branchengröße. Ihnen bietet ein Agent einen fast 900-seitigen Roman an, der das Wort Istanbul im Titel und darüber den Namen eines jüdischen Verfassers trägt. Binnen weniger Monate lassen Sie es geschwind übersetzen, doch für ein Lektorat bleibt weder Zeit noch Geld. Denn Sie wollen termingerecht eine Hardcoverausgabe in siebzehntausender Auflage auf den Markt bringen. Dem Autoren haben Sie einen Vorschuss in Höhe einer monatlichen Hartz-IV-Zahlung gewährt.
Mario Levis fiktive Memoiren İstanbul bir masaldı sind unter dem Titel Istanbul war ein Märchen nur bedingt lesbar. Die Geschichten, die Levi im Zeitraum von der Republikgründung bis zur Militärjunta von 1980 ansiedelt, sind von Haus aus spröde, weil ihnen nichts Spektakuläres anhaftet. Es ist die Alltäglichkeit jüdischen Lebens in Galata, und ihr allmähliches Verschwinden, welches allein das Märchenhafte an seinen Erzählungen ausmacht. Sie bräuchten eine feinere Übersetzung, um ihren Reiz nicht zu verlieren.
Erinnerung und Konflikt bilden zwei Konstanten seines Werkes, sagte er kürzlich anläßlich einer Lesung im Literaturhaus. Das schien das Publikum allerdings weniger zu interessieren als die immer wieder variierte Frage, wie es denn so sei, als Jude unter lauter Türken zu leben. Oder wie lange seine Familie denn schon da lebe. Man ist dann auch nicht peinlich berührt, wenn er antwortet, sie sei 1492 vor der spanischen Inquisition geflohen. Seine Vorfahren seien so lange schon Istanbuler, wie es die Stadt überhaupt unter diesem Namen gibt. Man drückt ihn dann zartfühlend an die Brust, denn er gehört zu uns ­-- Nein, es gehört zu uns, diesen feinsinnigen Menschen ob seiner Fremdheit in der Fremde zu bemitleiden, wir sind dann für einen Moment - Alors pour un instant / Pour un instant seulement / Alors moi je la crois Monsieur (J. Brel) - nicht Opfer, sondern Gönner und Beschützer. Wir wissen, wie schrecklich es sein muss, unter lauter Ausländern zu leben. Und dann Sie als... Reicht es nicht, mit türkischen Nationalisten konfrontiert zu sein, die denken, Juden und Armenier gehörten nicht dort hin? Brauchen wir noch Horden deutscher Kulturbürger, die zu wissen meinen, dass Juden in Istanbul fremd seien?
„Ich dachte schon, diese Frage würde gar nicht mehr kommen“, sagte Mario Levi erleichtert, als gegen Ende jemand etwas zu seinem Roman wissen wollte. Der ist, wie angedeutet, in der vorliegenden deutschen Übersetzung nur bedingt zu empfehlen. Wer des Türkischen mächtig ist, könnte mit einem seiner weniger umfangreichen Erzählbände wie Bir şehre gidememek (Nicht in eine Stadt fahren können) zunächst besser beraten sein.

Samstag, 27. September 2008

Predgradje gde svaki zločinac za novce drame kupuje
Pozoriše medju fabričim kaišma

Vorstädte in denen ein jeder Verbrecher für Geld Dramen kauft
Theater zwischen Treibriemen der Fabriken*

heute Hauptstadtkulturbetrieb wir müssen alle sehen wo wir bleiben
ein Projekt ergattern dass man was hat für den CV
wenn ich meinen Freund nicht hätte würd ich das alles nicht durchstehen
schick mal ne Email ich meld mich dann.

*Rade Drainac: Die Stadt und mein Schatten unterm Dach IV, deutsch von Ivan Ivanji.
Aus: Auf der Karte Europas ein Fleck. Gedichte der osteuropäischen Avantgarde (1910-1930). Hrg. M. P. Hein (1991)

Freitag, 26. September 2008

Über das Altern


I.
erzählte er mir, er könne beim lesen nicht erfassen, was da steht; er sei legastheniker. zuerst fiel ihm das wort nicht ein. war er sich ein wenig zu bewusst, daß er den wein, den man getrunken, nicht gut verkraftet hatte. bat mich um rat, das wort zu finden. anästhet, rätselte er. zögernd brachte ich den ausdruck ein, erfreut fasste er mich an der schulter. ja, das sei er. in der bar erzählte er dann, wie er vor zwanzig jahren am bahnhof zoo zusammengeschlagen wurde. er sei mit einem finnischen lyrikerkollegen bei einem arbeitswochenende im literarischen colloqium gewesen. überhaupt habe ihn achtundsechzig in der brd stark enttäuscht, er habe jahrelang auf etwas gewartet, und dann sei das gekommen. ganz anders sei es in prag gewesen, wo er ab 1964 regelmäßig gewesen sei. bis nach dem prager frühling der schriftstellerverband aufgelöst wurde, der ihn immer eingeladen hatte. außer mir wollte niemand so recht mit ihm reden. eine, für den prenzlauer berg hübsche, betrunkene anfang zwanzig hatte ihn beim eintritt in die bar angesprochen. er sei ein toller typ. doch als er sagte, er höre gern thelonious monk, entgegnete sie, das kenne sie zwar, doch es langweile sie, und ob er nicht die musik kenne, die sie gern höre. als er verneinte, wies sie ihn fort. das erzählten mir übereinstimmend fast im wortlaut die namentliche frau und er selbst. beide nannten nicht die musik, die sie gerne hörte. bemerkte ich, wie wir derlei erlebnisse, diese versagende erhabenheit, teilten, obschon er dreiundvierzig jahre älter ist, und wollte es ihm sagen.

II.
sagte mir die Frau bei der Kartenkontrolle - vermutlich BA-Studium in Eventmanagement, im Firment-shirt, wie man es aus Dönerläden kennt - er wünsche keinen Einlass nach Beginn, da dies bei den leisen Klaviertönen störe. Versäumte ich sein den Abend eröffnendes Solokonzert, eines vielleicht, wie im Frühjahr in Schöneberg, wo ich vor seiner Nase Nachos geknuspert hatte. Nun die Distanz zum Anlass des siebzigsten Geburtstages. Es war ausverkauft. Neben mir saß eine sympathische Dame, die von Freejazzkonzerten vor vierzig Jahren in Göttingen berichtete, und sie freute sich wirklich, als das folgende Trio in Schwung kam. Vermutlich war sie weniger einsam als ich. Der ehedem splitternde Ton des Saxophonisten war rund und wärmelig geworden, beinah mußte er durchs Trioset getragen werden. Dies unternahm der bucklichte Trommler, dem es - wagte man eine sachliche Personenbeschreibung - gut angestanden hätte, als dienstältester Sachbearbeiter undurchsichtig kinderreichen Familien ihre Regelsätze nach SGB II zu kürzen. Trat aber jeder einzelne ihrer Gedanken hervor, ohne noch Konventionen zu brechen wie 1972, vielmehr nonchalant einen Platz in dem regellosen Raum einnehmend, den sie einst aufgerissen. Zu den Dreien traten später drei weitere Saxophonisten, ein Baßklarinettist, drei Trompeter, drei Posaunisten sowie ein weiterer Schlagzeuger, viele von ihnen aus seiner Generation, was man schon am beibehaltenen Namen sah, den niemand heute mit würdevoller Emphase benutzen könnte: Globe Unity Orchestra. Immer wieder verließen Zuhörer, vornehmlich in Pärchenform, den Saal mit den knarrenden Dielen (Media Spree spart am Auslegeteppich), was nunmehr den Vortrag nicht störte, denn zumeist, und am Schönsten, spielten sie tutti. Das heißt, jeder etwas Anderes, wie im wirklichen Leben; und es ward großer Lärm und ich war glücklich. Mit einem aufgeregten Musikpädagogen am Flussufer Wein trinkend, sah ich ihn im Trenchcoat eine große Topfplanze zum Auto tragen, und unterließ es nicht, mich für den Abend zu bedanken.


Manfred Peter Hein hat anläßlich eines Workshops bei der Literaturwerkstatt seine grandiosen Übersetzungen des türkischen Lyrikers Refik Durbaş vorgetragen. Das Foto stammt von der Seite der Uni Greifswald zu ihm und seinem Werk.


Alexander von Schlippenbach hat im Rahmen des European Jazz Jamboree einen Konzertabend zu seinem 70. Geburtstag organisiert. Das Foto von Florin Leonties stammt von seiner eigenen Internetpräsenz.

Donnerstag, 25. September 2008

Going pink - Dramen des Alltags

Es wäre sexistisch zu behaupten, man müsse eine Frau sein, um zu verstehen, welch Drama sich am heutigen Abend abspielte. Nur dank der vorangegangenen Hamam-Session war ich zu schwummrig im Kopf, um nicht sofort auszurasten, als der Reißverschluss meines linken Stiefels kaputtging. Also saß ich halb angezogen in der Umkleidekabine des Fitness-Studios und überlegte, wie ich nach Hause kommen sollte. Okay, ich gebe zu, dass es nur 3min Heimweg sind. Und dass es schon dunkel war. Und dass ich noch meine Sportschuhe dabei hatte. Aaaaaber: Ausgerechnet heute trug ich einen knielangen grauen Tweedrock. Hautfarbene Strumpfhosen. Was ja eigentlich schon mal gar nicht geht - es sei denn, man hat schöne braune Lederstiefel, die fast bis an den Rocksaum reichen. Dann passt es wunderbar zu einem sonnigen, kühlen, aber noch nicht kalten Herbsttag. Wie heute. Meine Sportschuhe sind pink. Sehr pink. Und eben Sportschuhe. Ich finde, nur wenige Frauen können es sich leisten, Turnschuhe zu Röcken zu tragen - macht nun mal Stumpenbeine. Hätte ich wenigstens eine schwarze!!! Strumpfhose an. Nun, an dieser Stelle dachte ich, zugegebenermaßen nur kurz, an andere Dramen. Wie sich das als p.c.-Gutmensch gehört: weltweiten Hunger, Kriege und Giftmüll. Aber mit Dramen ist es wie mit der Wahrheit - alles relativ, immer schön kontextualisieren. Als Frau von Welt habe ich mich dann - nachdem ich die Möglichkeit verworfen hatte, mit meinen rosa Flipflops durch die Nobeleingangshalle zu stapfen, wo gutgebaute Jungs jetzt beim Vitamincocktail sitzen würden - entschieden, kein Opfer zu sein. Also die pinkfarbenen Turnschuhe. Zu dem Tweedrock und den hautfarbenen Strumpfhosen. Dann ein souveränes Gesicht aufsetzen und so tun, als trage man das jetzt so. Als mir jemand im Treppenhaus entgegenkommt, halte ich mir meinen großen schwarzen Rucksack direkt vor die Schienbeine. Beim Rausgehen auf die Straße hinten an die Waden. Total souverän, na bitte schön.

Übrigens blogge ich heute zum ersten Mal in meinem Leben. Ich dachte immer, der erste Eintrag müsste Substanz haben, Tiefgang. Ich bin froh, dass mir das so glänzend gelungen ist.

Mittwoch, 24. September 2008

zur arbeit fahren

Postsowjetischer Kollwitzplatz
es ist Regen, halbdunkel und fast Abend
niemand schiebt Kinderwägen, niemand geht schwanger
spazieren. Zwischen Po und Skrotum der Stoß der Felge,
als sie vom weichen Reifen ungenügend geschützt über
das nasse Kopfsteinpflaster knallt.

Über der Kälte liegt der warme Glanz
von Abendbeleuchtung, leer ist es
bis auf das stillose Café de Paris, man kommt zwischen
den geparkten Wagen kaum zur Haustüre durch.