Freitag, 26. September 2008

Über das Altern


I.
erzählte er mir, er könne beim lesen nicht erfassen, was da steht; er sei legastheniker. zuerst fiel ihm das wort nicht ein. war er sich ein wenig zu bewusst, daß er den wein, den man getrunken, nicht gut verkraftet hatte. bat mich um rat, das wort zu finden. anästhet, rätselte er. zögernd brachte ich den ausdruck ein, erfreut fasste er mich an der schulter. ja, das sei er. in der bar erzählte er dann, wie er vor zwanzig jahren am bahnhof zoo zusammengeschlagen wurde. er sei mit einem finnischen lyrikerkollegen bei einem arbeitswochenende im literarischen colloqium gewesen. überhaupt habe ihn achtundsechzig in der brd stark enttäuscht, er habe jahrelang auf etwas gewartet, und dann sei das gekommen. ganz anders sei es in prag gewesen, wo er ab 1964 regelmäßig gewesen sei. bis nach dem prager frühling der schriftstellerverband aufgelöst wurde, der ihn immer eingeladen hatte. außer mir wollte niemand so recht mit ihm reden. eine, für den prenzlauer berg hübsche, betrunkene anfang zwanzig hatte ihn beim eintritt in die bar angesprochen. er sei ein toller typ. doch als er sagte, er höre gern thelonious monk, entgegnete sie, das kenne sie zwar, doch es langweile sie, und ob er nicht die musik kenne, die sie gern höre. als er verneinte, wies sie ihn fort. das erzählten mir übereinstimmend fast im wortlaut die namentliche frau und er selbst. beide nannten nicht die musik, die sie gerne hörte. bemerkte ich, wie wir derlei erlebnisse, diese versagende erhabenheit, teilten, obschon er dreiundvierzig jahre älter ist, und wollte es ihm sagen.

II.
sagte mir die Frau bei der Kartenkontrolle - vermutlich BA-Studium in Eventmanagement, im Firment-shirt, wie man es aus Dönerläden kennt - er wünsche keinen Einlass nach Beginn, da dies bei den leisen Klaviertönen störe. Versäumte ich sein den Abend eröffnendes Solokonzert, eines vielleicht, wie im Frühjahr in Schöneberg, wo ich vor seiner Nase Nachos geknuspert hatte. Nun die Distanz zum Anlass des siebzigsten Geburtstages. Es war ausverkauft. Neben mir saß eine sympathische Dame, die von Freejazzkonzerten vor vierzig Jahren in Göttingen berichtete, und sie freute sich wirklich, als das folgende Trio in Schwung kam. Vermutlich war sie weniger einsam als ich. Der ehedem splitternde Ton des Saxophonisten war rund und wärmelig geworden, beinah mußte er durchs Trioset getragen werden. Dies unternahm der bucklichte Trommler, dem es - wagte man eine sachliche Personenbeschreibung - gut angestanden hätte, als dienstältester Sachbearbeiter undurchsichtig kinderreichen Familien ihre Regelsätze nach SGB II zu kürzen. Trat aber jeder einzelne ihrer Gedanken hervor, ohne noch Konventionen zu brechen wie 1972, vielmehr nonchalant einen Platz in dem regellosen Raum einnehmend, den sie einst aufgerissen. Zu den Dreien traten später drei weitere Saxophonisten, ein Baßklarinettist, drei Trompeter, drei Posaunisten sowie ein weiterer Schlagzeuger, viele von ihnen aus seiner Generation, was man schon am beibehaltenen Namen sah, den niemand heute mit würdevoller Emphase benutzen könnte: Globe Unity Orchestra. Immer wieder verließen Zuhörer, vornehmlich in Pärchenform, den Saal mit den knarrenden Dielen (Media Spree spart am Auslegeteppich), was nunmehr den Vortrag nicht störte, denn zumeist, und am Schönsten, spielten sie tutti. Das heißt, jeder etwas Anderes, wie im wirklichen Leben; und es ward großer Lärm und ich war glücklich. Mit einem aufgeregten Musikpädagogen am Flussufer Wein trinkend, sah ich ihn im Trenchcoat eine große Topfplanze zum Auto tragen, und unterließ es nicht, mich für den Abend zu bedanken.


Manfred Peter Hein hat anläßlich eines Workshops bei der Literaturwerkstatt seine grandiosen Übersetzungen des türkischen Lyrikers Refik Durbaş vorgetragen. Das Foto stammt von der Seite der Uni Greifswald zu ihm und seinem Werk.


Alexander von Schlippenbach hat im Rahmen des European Jazz Jamboree einen Konzertabend zu seinem 70. Geburtstag organisiert. Das Foto von Florin Leonties stammt von seiner eigenen Internetpräsenz.

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