Dienstag, 7. Oktober 2008

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vor rund einem Jahr hatte ich ja den Verdacht, dass jemand aus meinem Hausflügel regelmäßig meine Zeitung von den Treppenstufen stahl. Bei den von mir kriminalistisch identifizierten Tatverdächtigen handelte es sich um ein Ehepaar, das wahrscheinlich schon seit der Nibelungenzeit in diesem Gebäude lebt. Inzwischen schwant mir, dass sie meine Zeitung vielleicht gar nicht angeeignet, sondern schlicht entsorgt haben, weil sie zu lange, oder überhaupt, auf den Treppenstufen lag.

um 7 Uhr aufzuwachen, weil man das versprochene Fax am Vorabend zu schicken vergessen hat, es geht um einen buchhalterischen Vorgang. Keines der unzähligen, per Fahrrad ansteuerbaren Telecafés ist zu Beginn der Bürozeiten geöffnet. Vielleicht ist das Einzige, was ich heute noch gewinnbringend aus Lenin zu ziehen vermöchte, seine Abneigung gegenüber der Unmenge an kleinen Ladenbesitzern, die in Zeiten schärfer werdender sozialer Disparitäten (ja, ich weiß: Klassenantagonismen) überall entstehen. Unsere hier sind allesamt migrantisch. Nur eines - wie passend: Mit spezifisch linksradikaler Plakatwerbung im Fenster - hat geöffnet, doch man bekommt den Papierstau nicht behoben.

beim Bäcker unvermittelt daran gedacht, mit welcher Verachtung kleine Ladenbesitzer in der Türkei oft die Frage "talebe misin" ausgesprochen haben, bist du Student, mit diesem unmöglichen Paläologismus. Da ihnen der soziale Status des Studierens ingesamt suspekt vorkam. Plötzlich verstanden, dass ich selbst eigentlich nur das Beste an der BRD der 70er mitbekommen habe, nämlich die Reaktion der Reaktionäre: Dass mein schlesischer Vater gar nicht so sehr mit meiner Wahl der Studienrichtung unzufrieden, als dass ihm die gesamte soziale Gruppe der Studenten eine feindliche Bedrohung war, und er mich am Liebsten in die Lehre gegeben hätte.

nur ungern betrete ich das Gebäude der Bundespost, und freue mich, als ich nicht mit einem Wäre-ich-mal-Sofort herauskomme, sondern dem Schmunzeln über einen strengen älteren Herren, der zunächst nur "Nä!" sagt. Dann überlegt er, möchte korrekt sein: "Haben wir, aber nur für den internen Gebrauch. Nicht für ..." Auffallend lange mustert er mich, er scheint sich der Anrede unsicher, "... so andere Sachen." Letztlich ist es auch um diese Tageszeit schön, einmal nicht Kunde zu sein, als bestünden noch Rückverbindungen in jene Zeit, da man nicht primär mit dem Markt, sondern dem Staat konfrontiert, selbst beim Jobcenter nicht Kunde, sondern beim Sozialamt ein Vorgang war; da die Grenzen zwischen uns und dem Feind noch gezogen, und es nicht diese Myriaden an kleinen Ladenbes...

ich weiß nicht, ob es an der Jahreszeit liegt, aber anscheinend bekomme ich jedes Jahr einen Brahmsflash. Dieses Jahr hat es mir insbesondere Artur Rubinstein angetan, dem ich ganz snobbistisch von Vinyl dabei zuhöre, wie er die Klavierkonzerte eins und zwei, wie sagt man so schön, interpretiert. Dass jede Lektüre ein neuer Text sei, gilt bestimmt auch für Partituren, und meiner knackt und knistert, da er aus einer Krabbelkiste beim Antiquariat stammt. Warum der Brahms wohl den Dvořak so herablassend behandelt hat, bestimmt bloß antislawische Motive. Vor allem, wenn Letzteren Sviatoslav Richter interpretiert, auf einer Schallplatte des Labels EMI, das ansonsten ja eher durch die Sex Pistols in Erscheinung getreten ist.

beim Vorbeifahren davon geträumt, dass der Installationsmeister Klotz, der hier anscheinend so etwas wie ein persönliches Innungsmonopol besitzt und mir zur Wartung der Therme einen Nazi in die Wohnung geschickt hat, von Myriaden von migrantischen Kleinbetrieben abgelöst wird. Obschon: Der erste und griesgrämigste Unzähligekleinelädenbetreiber auf meiner Route war von mir im letzten Winter belauscht worden, wie er stramm faschistisch gegen kurdische Terroristen agitierte. Den möcht ich auch nicht früh morgens in meiner ungepflegten Küche haben.

an einem nüchternen Oktobermorgen kann es einem leicht so vorkommen, als bestünde die Welt nur aus Männern in hellen, teuren Anzügen, die Kinder haben und gern die Pistols hören, und solchen, die sich wie Klötze am Markt positionieren, und nicht möchten, dass ihre Kinder studieren, damit sie später keine hellen, teuren Anzüge tragen und Aufnahmen aus dem Hause EMI hören.

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