Dienstag, 2. Juni 2009

Eigentlich kam ich nur zur Visite. Diesmal beim Oberguru-Doktor des Reha-Zentrums, ein freundlicher älterer Herr mit Hemd und Krawatte. Er guckte auf mein Knie, stellte ein paar Fragen, machte sich einige Notizen, freute sich über die gelungene Operation. All das in knapp fünf Minuten. Dann blickte er in meine Akte und wollte wissen, welches Fach ich denn studiere.

Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, welche Gesprächigkeit bei meinem Gegenüber ausgelöst wird, sobald es auf das Thema Islamwissenschaft kommt. Denn jeder hat dazu eine Meinung, wirklich jeder: türkische Nachbarn, Ehrenmorde, Palästina-Konflikt, Ägypten-Urlaube, Kopftücher. Es gibt ja so viel zu reden, nicht wahr?

In den folgenden 15 (!) Minuten handelten der Oberguru-Doktor und ich folgende Themen ab: Kann man die westlichen Islamwissenschaftler generell in zwei Lager einteilen, nämlich die totalen Beschöniger und die harschen Islamkritiker? Warum konvertieren Afroamerikaner zum Islam und was hat das mit der Protestantischen Ethik zu tun? Kann eine Religion per se (nicht-) rassistisch sein? Wir diskutierten den Unterschied zwischen slave societies (USA) und societies with slaves (arabische Welt) im Sinne Sherman Jacksons. Ein kurzer Schlenker zum Black Orientalism: ist der Islam qua seiner arabischen Prägung nicht auch inhärent rassistisch? Der Oberguru-Doktor warf die komplexe Frage nach der (Un-)Übersetzbarkeit des Koran aus dem Arabischen und die daraus resultierenden Implikationen (z.B. Arabozentrismus) auf. Darüber landeten wir bei der angeblichen Wissenschaftsfeindlichkeit des Islam, die der Oberguru-Doktor meint ausgemacht zu haben. Die Errungenschaften der islamischen Geschichte, so meinte er, seien doch alle auf konvertierte Juden zurückzuführen. Den hier eigentlich notwendigerweise anzuführenden Diskurs über strukturell antisemitische Stereotype ersparte ich uns. Dafür landete der Oberguru-Doktor jetzt bei der Tagespolitik: ist die Tatsache, dass sich die Palästinenser über jeden winzigen Erfolg über Gebühr freuen und diesen als Sieg uminterpretieren, nicht ein Zeichen für den dem Islam immanenten Willen zur Eroberung? Eine Religion des Kampfes? Ich problematisierte die Schwierigkeit essentialistischer Islam-Bilder, die es ja durchaus auch von muslimischer Seite gebe, um dann mit dem Oberguru-Doktor auszudiskutieren, wie wahrscheinlich eine 'Reform von innen' ist, die er als notwendig anmahnte. Darüber kamen wir nun zu Legitimationsstrategien dieser sogenannten Reformer und deren möglichen Chancen bzw. Grenzen, um in einem versöhnlichen 'mal sehen, was die Zukunft bringt' zu enden.

Denn inzwischen hatten wir fast 10 min überzogen, obwohl ich doch schon längst bei der Aqua Gym hätte sein sollen! Der Oberguru-Doktor bedankte sich für das Gespräch und sagte, ich könne jederzeit wieder vorbeikommen. Während ich die Stufen ins Schwimmbad runterschlitterte, sinnierte ich darüber, dass wir gar nicht über Kopftücher gesprochen hatten. Von daher war dieses Gespräch doch außergewöhnlich gewesen. Als ich in das kalte Wasser eintauchte und mich langsam abkühlte, dachte ich, dass es toll wäre, neben jedem Podium künftig ein eiskaltes Becken für die Diskutanten zu haben. 


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