Dienstag, 23. Dezember 2008

Ich torkle durchs Abteil. Die Stiefel haben viel zu hohe Absätze, um damit elegant durch einen ICE zu stolzieren, der sich grade durch die langen Tunnel Hessens windet und ächzt. Von meinen flachen Stiefeln ist mir heute morgen der Absatz abgefallen. Panik. Ich brauche die für Weihnachten und bin grade aufm Weg zum Bahnhof! Die *Russen* (Achtung, Leitmotiv) im Schuhmacherladen in der Passage drüben hab ich mit viel Klimperklimper dazu gekriegt, mir die Stiefel sofort zu reparieren. Ich hab ihnen dafür eine Packung Merci geschenkt. Sie haben sich so sehr gefreut, dass ich traurig wurde. Kriegen sie denn sonst nie Merci? Zum Stiefelwechseln hatte ich nach der Reparatur keine Zeit. Also weiter in den High Heels.
Im Zug fangen kurz hinter Mannheim immer alle an, krassestes Schwäbisch zu sprechen. Warum alle? Dürfen Nichtschwaben oder Rei`gschmeckte in Baden-Württemberg gar nicht Zug fahren? Selbst die gutaussehenden Herren in ihren Nadelstreifenanzügen wirken plötzlich bieder.
Irgendwie werd ich glaub krank. Der Hals tut weh, die Nase kribbelt. Post-Party-Syndrom oder Erkältung? Krank zuhause sein war früher immer schön: man kriegte zu essen, was man wollte, lauter Zeitschriften, Fernsehen. Essen, was ich will, gibts immer noch. Zumindest offiziell. Aber ich muss es meist selbst kochen. Zeitschriften gibt es nach wie vor en masse. Ich fange an, mich durch die letzten 12 Ausgaben der BUNTE zu lesen, äh, gucken. Auch der Boris ist wieder Single. Traurig. Trotz seines Namens ist er kein Russe (des Leitmotivs wegen musste das erwähnt werden). Und wieder eine Sandy mehr aufm Heiratsmarkt. Nur Heidi Klum gebärt fröhlich vor sich hin.
Die Plastiktanne steht. Ich hab mich immer noch nicht dran gewöhnt. Sie sieht perfekt aus, nur die Spitze bleibt krumm, wir kriegen das einfach nicht gerade hingebogen. Hm, fast so wie die Natur: unberechenbar. Nur riecht der Baum gar nicht. Nach nix. Nadeln tut er dennoch. Seltsam. Mit Strohsternen und Goldkugeln sieht er ganz schön aus. Aber Plastik bleibt Plastik. Ich bin da konservativ.
Wieviel Ragout Fin braucht man für die Pasteten? Ein Drama beginnt. Die zwei Dosen reichen doch nie und nimmer! Aber mehr gibt es nicht von der teuren, der *guten* Firma. Mischen mit der Billigware? Was wird die Oma sagen, wenn sie hört, dass da Geflügel drin ist? Die Oma isst doch kein Geflügel! Egal, sie merkt auch nie, wenn ich Knoblauch ins Essen tue. Obwohl das doch nur Russen essen, sagt die Oma.
Der Vater ist kurz irritiert, weil die Töchter sein Klingeln des Morgens nicht sofort erhören, weil sie sich fönen. Und er ist doch so hungrig, normalerweise frühstückt er ja viiiiel früher. Ja, die Kinder sind wieder daheim. Mit ihnen das ganze Chaos einer Großfamilie. Alle versuchen, es zu genießen. Es wird über Eierkochzeiten diskutiert und kurz über Steuererklärungen. Kinder, ist das Leben schön.
Die Oma hat nachmittags Besuch von einer alten Bekannten. Diese redet in schwindelerregend kurzer Zeit über mich als Kind (*d`K. hat net mit annam jedm gschprocha, nei nei,, nur mit adenen, die sie wirklich gmocht het, die konnt a ganz schön Schture sei - ganz andersch wia d`Kloine, die hat oifach immer gschtrahlt* - ich bin K. ...) geredet, dann über die Bombennächte 1945 (*ond plötzlich lag dia ganz Familie moiner Freundin dooood da, wissetse, alle doood*) und über Erbschleicher in der Familie (*hah, moi Kusiiiiin isch des - aber beim Geld isch Schluss mit luschtig, gell?*), und jedem Satz schob sie ein grelles Lachen nach. Ich flüchte in den Supermarkt, um die Ragout Fin-Frage zu klären.
Entschleunigung. Auf einem riesigen PC-Ungetüm versuche ich, mich wie einst zu Grundstudiumszeiten mit dem Smartsurfer ins Internet einzuwählen. Erst die Oma anrufen und checken, ob mit ihr alles okay ist. Denn beim Surfen wird die Telefonleitung tot sein. Das Modem jault. Modem. Auch so ein Wort, das aus unserem Sprachgebrauch verschwinden wird. Wie einst Bollerwagen, Schlauchmilch, Zehnpfennigstück und Kassettenrecorder. Während ich mich die folgende halbe Stunde lang auf GMX einlogge, koche ich mir einen Tee, nähe eine Naht an meiner Hose und studiere das Kinoprogramm für Heiligabend. Beim Surfen in Berlin schaffe ich es noch nicht mal, nebenher die Waschmaschine auszuräumen.
Naomi Campbell ist jetzt mit einem reichen Russen zusammen, sagt die BUNTE. Seinen Namen hab ich schon wieder vergessen. Er hieß weder Putin noch Jelzin. Aber er ist Russe.

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